Gyula Horn: "Wir Ungarn waren in so vielem die Ersten" - WELT (2025)

Gyula Horn ist mit einem Foto weltberühmt geworden. Es zeigt den ungarischen Außenminister 1989, wie er den Stacheldraht an der österreichisch-ungarischen Grenze durchschneidet. Der symbolische Akt war der Anfang vom Ende des Eisernen Vorhangs, der bis dahin das sowjetische Herrschaftsgebiet vom freien Westen trennte. Später ließ Horn Ungarns Grenze nicht nur einen Spalt weit, sondern ganz öffnen – und ebnete damit den Weg zur deutschen Einheit: Im Oktober 1989 durften Tausende DDR-Flüchtlinge das Land in Richtung Bundesrepublik Deutschland verlassen.

Auch im Inneren trieb Horn die demokratische Wende voran, löste die Staatspartei auf und gründete die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP), die er als Vorsitzender zu ihrem ersten Wahlsieg 1994 führte. Unter seiner Ministerpräsidentschaft 1994 bis 1998 fand eine große Privatisierungswelle statt, das Land wurde Mitglied der Nato und stellte den Antrag auf Aufnahme in die EU. Wegen all dieser Verdienste schlug Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány Staatspräsident László Sólyom vor, Horn anlässlich seines Geburtstags den höchsten ungarischen Staatspreis zu verleihen. Das aber sorgte für eine erregte Debatte, denn Horn war während der Revolution von 1956 für ein halbes Jahr Mitglied der berüchtigten Arbeitermiliz, ohne Reue zu zeigen. Sólyom lehnte Horns Auszeichnung gestern ab und erklärte dies damit, dass Horns Verhältnis zu 1956 der "verfassungsmäßigen Werteordnung nicht entspricht". Mit Horn sprach Krisztina Koenen.

WELT ONLINE: Sie sind jetzt 75 Jahre alt, haben in drei Gesellschaftssystemen gelebt, in zweien waren Sie aktiver Politiker. Gibt es etwas, was Sie zurückblickend bereuen?

Gyula Horn: Ich würde rückblickend gewiss vieles anders machen, keine Frage. Aber ich bin unendlich stolz darauf, dass Ungarn in vielerlei Hinsicht Erster war, vor allem, was die Etablierung des europäischen Wertesystems in unserem Lande betrifft. Wir waren in so vielem die Ersten! Nur ein Beispiel: Wir sind 1980/81 als erstes – damals noch sozialistisches – Land dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beigetreten. Alles in allem, es war oft nicht einfach für mich, auch nicht für meine Familie.

WELT ONLINE: Zurzeit aber gibt es eine größere öffentliche Debatte über Sie: Ihr Parteigenosse, Ministerpräsident Gyurcsány, hat Sie anlässlich Ihres Geburtstags für eine hohe staatliche Auszeichnung vorgeschlagen, Staatspräsident Sólyom lehnt dies ab. Sein Argument ist, dass Sie 1956 für etwa ein halbes Jahr den Ordnungskräften angehörten, denen eine Mitschuld an der Niederschlagung der Revolution nachgesagt wird. Gehört dies nicht zu den Dingen, die Sie bereuen?

Horn: Wenn man ein großes historisches Ereignis bewerten will, muss man alle Umstände betrachten. Als die Revolution ausbrach, arbeitete ich im Finanzministerium. Im Oktober 1956 hat sich die öffentliche Ordnung aufgelöst. Es gab unerbittliche Straßenkämpfe, es gab bis Mitte Dezember keine Kraft, die für die Herstellung der Ordnung zuständig gewesen wäre. Die Budapester Polizeidirektion begann damit, diese Kräfte zu organisieren. Man hat mich damals gebeten mitzuhelfen, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Ich war als Offizier der Reserve zu diesem Dienst verpflichtet. Die Arbeitermiliz hatte eine sehr wichtige Aufgabe, und viele wären heute nicht da, hätten wir versagt. Es ging darum, gegen gemeine Verbrecher vorzugehen, wer sonst hätte die Bevölkerung vor den Verbrechern beschützt? Die Menschen mussten wieder die Möglichkeit bekommen, gefahrlos auf die Straße zu gehen. Das hatte nichts mit dem Sozialismus zu tun, das ist keine Nebensächlichkeit, sondern eine Aufgabe, die unter allen Umständen gelöst werden muss. Dies gilt heute genauso wie damals. Was sonst passieren kann, hat man letztes Jahr im Oktober gesehen, als auf öffentlichen Plätzen demoliert und gezündelt wurde.

WELT ONLINE: Sie haben aber 1989 der Rehabilitierung von Imre Nagy, dem Ministerpräsidenten der 1956er-Revolution, den János Kádár hinrichten ließ, zugestimmt?

Horn: Sicher habe ich das. Aber das ändert nichts daran, dass dies damals eine Aufgabe war, die in Angriff genommen werden musste. Im Übrigen habe ich nie einen Hehl daraus gemacht, was ich 1956 getan habe. Bei den Parlamentswahlen 1994 sind ich und meine Partei, die Ungarische Sozialistische Partei, MSZP, trotzdem mit großer Mehrheit gewählt worden.

WELT ONLINE: Aber es gibt keine Ordnung, die vom jeweiligen System unabhängig wäre.

Horn: Natürlich hatten wir Angst um das System. Denn es hatte durchaus etwas Positives: Der Aufstieg von armen Menschen, Jugendlichen, die früher keine Chance hatten. Das war trotz der politischen Verbrechen von Rakosi, dem Vorsitzenden der KP vor 1956, ein unendlich großer Verdienst. Wir hatten tatsächlich Angst um das System, das dies ermöglicht hat. Und wir waren damit nicht allein. Die Arbeiterräte wollten das System auch nicht ändern, sie hatten ein sozialistisches Programm.

WELT ONLINE: Sie gehören selbst zu dieser Generation, die noch das Vorkriegselend erlebt hat.

Horn: Ja, ich wurde 1932 im finstersten Elend geboren und bin unter großen Entbehrungen aufgewachsen. Selbst die tägliche Nahrung zu beschaffen war für meine Familie ein großes Problem. Obwohl mein Vater nie direkt etwas mit der kommunistischen Bewegung zu tun hatte, wurde er immer wieder von der Polizei mitgenommen, da musste die ganze Familie davon leben, was meine Mutter verdienen konnte. Einmal sind wir mitten im tiefsten Winter auf die Straße gesetzt worden, weil wir die Miete nicht zahlen konnten. Ab dann lebten wir in Baracken, einmal sind wir bei einem Brand fast selbst mit verbrannt. Meinen älteren Bruder haben die Gendarmen einmal so zusammengeschlagen, dass er ein Auge verlor. Meinen Vater haben später, nach der Besetzung Ungarns 1944, die Deutschen verschleppt und im Wald von Sopron erschossen. Deshalb frage ich mich immer wieder, wie kann das sein, dass heute Miklós Horthy (der Reichsverweser von 1920 bis 1944, d. Red.) wieder in den Himmel gehoben wird? Er verantwortet schließlich eine Diktatur, die keine demokratischen Institutionen zuließ und für die Mehrheit der Gesellschaft Elend bedeutete. Wir waren damals eines der ärmsten Länder Europas.

WELT ONLINE: Hat sich Ihre Lage nach dem Krieg gebessert?

Horn: Die Grundschule habe ich durch Abendstudium beendet, während ich tagsüber als Lehrling in einer ungarischen Siemens-Fabrik arbeitete. Die Parteiorganisation der Fabrik schickte mich später auf ein Arbeiterkolleg, wo ich das Abitur machen konnte. Dort meldete ich mich zum Studium in der Sowjetunion. Ab 1950 studierte ich in Rostow am Don Volkswirtschaft. Und als ich mein Diplom in der Hand hatte und nach Ungarn zurückkam, bekam ich eine Stelle im Finanzministerium. Später wechselte ich dann in den diplomatischen Dienst.

WELT ONLINE: Wie würden Sie sich heute definieren? Als Sozialdemokraten? Als Sozialisten?

Horn: Als Sozialisten – ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Als einen sehr offenen Sozialisten.

WELT ONLINE : Sie haben schon sehr früh die Westöffnung des Landes betrieben. Wie kamen Sie zu dieser Überzeugung?

Horn: Ich hatte großes Glück. Das bestand darin, dass die Politik von den Ereignissen 1956 gelernt hat, zunächst noch getrieben durch die Notwendigkeiten. Wir haben früh, 1974, den Kontakt zu den europäischen Sozialdemokraten gesucht. Dadurch haben wir die Marktwirtschaft zu schätzen gelernt. Wir kamen oft mit der Überzeugung nach Hause, so etwas könnten wir doch auch machen.

WELT ONLINE: Aber das war doch damals in den Siebzigerjahren überhaupt nicht möglich!

Horn: Was glauben Sie, was für scharfe Kritiken wir geerntet haben, nur weil wir über Marktwirtschaft nur nachdachten! Revisionismus sei das, schrie man.

WELT ONLINE: Im Lande, oder kam die Kritik von außerhalb?

Horn: Von außen, aber auch aus dem Land selbst!

WELT ONLINE: Sie hatten trotzdem schon früh sehr enge Beziehungen zur Bundesrepublik geknüpft und bemühten sich ab 1981 um einen Sondervertrag mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG.

Horn: Wir waren damals durch die Einbindung in den RGW, dem östlichen, von der Sowjetunion beherrschten Wirtschaftsblock, in eine Art wirtschaftliche Quarantäne gesperrt. Wir dachten, dass eine Möglichkeit des Ausbruchs wäre, offizielle Beziehungen zur EWG aufzunehmen. Zunächst sprachen wir mit Eugen Zelbmann, dem Berater von Kanzler Helmut Schmidt, der das Ansinnen unterstützte. Wir führten geheime Verhandlungen, damit nicht durch vorzeitige Kritik alles verhindert wird. Im April 1982 besuchte János Kádár Bonn auf Einladung von Helmut Schmidt. Die Gespräche liefen in guter Atmosphäre. Als wir einmal zu dritt zusammensaßen, sagte Helmut Schmidt zu meiner Überraschung, die Differenzen zwischen unseren Vorstellungen seien zu groß, als dass das Abkommen zustande kommen könnte. Darüber hinaus würde so ein Abkommen mit der EWG für Ungarn schwere Konflikte mit der Sowjetunion heraufbeschwören, deshalb schlage er vor, das Thema vorläufig von der Tagesordnung zu nehmen. Beim Abschlussbankett fragte ich dann Helmut Schmidt, warum er sich unseren Kopf wegen den Beziehungen zur Sowjetunion zerbreche. Er erklärte mir daraufhin, dass es auch für die BRD unangenehm werden könnte, wenn die Russen erführen, dass die BRD beim Zustandekommen des Abkommens assistiert hat. Danach kam für mehrere Monate Stillstand in die Beziehungen mit der EWG.

WELT ONLINE: Und, hatten Sie Angst vor der Reaktion der Russen?

Horn: Es gab damals nur einen politischen Führer im sozialistischen Lager, der Reformen dieser Art unterstützt hat, und das war János Kádár. Es war doch so: Die sozialistischen Führer haben alles, was unsere Länder betraf, durch das russische Prisma gesehen. Was werden die Russen dazu sagen? Wenn die Russen etwas für gut befunden haben, dann durften wir es auch machen. Was glauben Sie, unter welchen Druck wir geraten sind, als wir 1981 dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beigetreten waren? Am schlimmsten war der Stil der Russen: herablassend und grob. Aber Kádár bestand darauf, dass die Selbstbestimmung des Landes nicht in dieser Weise eingeschränkt werden dürfe. Er ließ sich nicht erpressen. Es war eine wirtschaftliche Notwendigkeit, diesen Schritt zu tun, die große Verschuldung zwang uns dazu. Was Helmut Schmidt betrifft, so muss man wie immer die Umstände sehen: Er war zu einer Konfrontation mit den Russen nicht bereit.

WELT ONLINE: Sie haben einmal die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei nach der Wende als eines ihrer großen Verdienste bezeichnet.

Horn: 21 Gründungsmitglieder hatte die MSZP, viele waren wir nicht. Die Widersprüche innerhalb der USAP, der früheren Staatspartei, waren so groß geworden, dass eine Fortführung der Partei gar nicht mehr möglich war. Ein Prozent der ehemaligen Mitgliedschaft ist in die MSZP übergetreten.

WELT ONLINE: Trotzdem ist sie doch in gewisser Weise die Nachfolgepartei der USAP.

Horn: Ja, was soll sie denn sonst sein? Sollen wir unsere ganze Vergangenheit verleugnen? Denn wenn ich dieser Logik folge, hat niemand, außer den Rechten, das Recht, in Ungarn als Partei zu existieren. Natürlich haben wir die Partei gegründet und haben 33 Abgeordnete in das erste unabhängige, frei gewählte Parlament geschickt. Und 1994 haben wir im Wahlkampf gesiegt, obwohl alle über meine Vergangenheit Bescheid wussten. Mir war egal, wie viele am Anfang eingetreten sind. Ich habe damals als Parteivorsitzender versprochen, diese Partei regierungsfähig zu machen. Und so kam es dann auch. Ich habe die Partei in die Sozialistische Internationale geführt und sie von Grund auf erneuert. Unser Apparat musste radikal abgebaut, viele mussten entlassen werden, weil wir kein Geld hatten.

WELT ONLINE: Und das Vermögen der USAP?

Horn: Das ist doch Blödsinn.

WELT ONLINE: Aber während der Privatisierung des Staatsvermögens haben sich die ehemaligen Genossen doch etliche Vorteile verschafft und sie genutzt?

Horn: Wie hätten sie sich denn Vorteile verschaffen sollen? Sie waren doch keine Staatsangestellten. Die wichtigen Informationen hatten nur die Regierungsmitglieder. Klar sind viele ehemalige Parteimitglieder in die Wirtschaft gegangen, was hätten sie sonst machen sollen? Die Banken und große Unternehmen haben sie gern genommen, weil sie über wichtige Erfahrungen verfügten. Sie haben heute gute Jobs, aber dass sie über große Vermögen verfügten, das stimmt nicht. Über das meiste Kapital verfügen heute Ausländer, es handelt sich entweder um ausländische Unternehmen oder um Beteiligungen.

WELT ONLINE: Auch das wird Ihnen oft als „Ausverkauf des Landes“ zum Vorwurf gemacht.

Horn: Warum sollte das schlimm sein? Das ist eine weltweite Erscheinung, die nicht beklagt, sondern zum Vorteil des Landes genutzt werden sollte. Wir haben zwischen 1994 und 1998 die Erlöse aus der Privatisierung an ausländische Unternehmen ausschließlich zur Schuldentilgung genutzt, es handelt sich dabei um etwa vier Milliarden Dollar. Die Verträge waren so gestaltet, dass der neue Besitzer die gekauften Unternehmen modernisieren musste und die Mitarbeiter nicht entlassen durfte.

WELT ONLINE: Gab es eine Alternative zu dieser Art der Privatisierung?

Horn: Nein. Aber man hätte den gesellschaftlichen Dialog intensiver führen müssen. Man hätte mehr mit den Menschen diskutieren, mehr erklären müssen. Uns konnte in dieser Sache niemand beraten, und uns fehlte das Kapital, wir waren ein armes Land. Kaum einer hat verstanden, welche Qualen die Privatisierung verursacht hat. Wir waren manchmal gezwungen, Objekte praktisch für umsonst abzugeben, wir hatten einfach keine Alternative.

WELT ONLINE: Gibt es nicht eine große Enttäuschung über die Demokratie?

Horn: Die Wahlbeteiligung war in Ungarn immer niedrig, sogar vor dem Zweiten Weltkrieg. Aber das ist in der Tat eine ernste Gefahr.

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Author: Mrs. Angelic Larkin

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